Dass sich Kinder immer wieder mal streiten ist normal, aber wie können wir dem begegnen? Darf Streit denn überhaupt sein? Wenn nein, warum nicht? Ist es unangenehm?
Macht man das einfach nicht? Ist es peinlich? Macht es hilflos? Ich sage: „ja, Kinder dürfen streiten“. Streit gehört zum Leben.
Wenn sich Menschen streiten, wollen sie in der Regel von ihrem Gegenüber genau das, was der auch von ihm will. Meistens ist das Verständnis, Respekt oder
Aufmerksamkeit. In einem Streit geht es selten um die Sache an sich geht, sondern eigentlich um Gefühle, die sich in den Menschen ausbreiten und Bedürfnisse, die nicht erfüllt wurden. Aber
was bedeutet das, und wie verhalte ich mich als Streitschlichter?
Gefühle spüren
Bei einem Streit entstehen oft in Bruchteilen von Sekunden verschiedene Gefühle, weil sich etwas nicht so entwickelt hat, wie man sich das vorgestellt hat. Für
diese Gefühle ist nicht der andere verantwortlich, sondern ganz allein die Person die die Gefühle gerade hat. Das zeigt sich manchmal ganz deutlich, wenn mehrere Menschen in derselben Situation
verschiedene Gefühle entwickeln.
Gefühle wie Ärger, Wut oder Traurigkeit wollen viele Menschen allerdings meistens so schnell wie möglich wieder los werden. Was nicht zwingend notwendig wäre, denn
sie stellen eigentlich keine ernsthafte Gefahr für das Leben dar. Aber es fällt vielen Menschen schwer diese Gefühle auszuhalten oder besser noch, wirklich zu fühlen und zu akzeptieren, dass sie
einfach da sind.
Gefühle zulassen
Meine Vermutung, warum viele Menschen diese Gefühle schnell wieder los werden wollen ist, dass sie in ihrer Kindheit nicht die Möglichkeit hatten, zu lernen Gefühle wirklich zu erspüren und anzunehmen. Sie waren nicht von Menschen umgeben, die sie gut darin begleiten konnten. Stattdessen wurden sie mit Sätzen wie: „ist alles nicht so schlimm“, mit Ablenkung, mit dem Schnuller oder einem anderen Ersatz scheinbar getröstet. Das heißt, ein Kind hat in so einer Situation nicht die Möglichkeit das fühlen zu dürfen, was gerade ist. In einem Kind muss eine ziemliche Verwirrung entstehen, wenn das gefühlte Gefühl und die Reaktion der Erwachsenen nicht so richtig zusammenpassen. Z. B. ein Kind ist hingefallen, bleibt kurz liegen, weint vielleicht und der begleitende Erwachsene sagt: „alles nicht so schlimm, schnell wieder aufstehen, musst nicht weinen.“ Der Erwachsene steckt nicht in dem Körper des Kindes. Es kann sein, dass sich das Kind kurz besinnen möchte, wo ist oben und unten, tut mir was weh, was ist passiert, ist mein Begleiter noch da? Dafür braucht das Kind vor allem kurz ein bisschen Zeit, Ruhe und Aufmerksamkeit, mehr erst mal nicht.
Vielleicht war es für unsere Vorfahren irgendwann einmal nötig, sich von ihren Gefühlen abzuspalten. Das kann hilfreich gewesen sein, z. B. in Kriegszeiten.
Heutzutage halte ich es aber für wichtig und sinnvoll mit seinen eigenen Gefühlen und denen der Mitmenschen interessiert und wertfrei umgehen zu können.
Bedürfnisse erkennen und anhören
Die Gefühle sind also die ersten Reaktionen, die uns anzeigen, hier stimmt vielleicht was nicht. Aber warum? Etwas ist nicht so eingetreten, wie man sich jemand das
vorgestellt hat. Das heißt hier
wurden Bedürfnisse nicht erfüllt. Bedürfnisse sind keine konkreten Dinge oder Vorhaben, die wir uns wünschen, sondern Zustände, die für unser Leben wichtig
sind.
Ein Beispiel: manchmal sagt man: „ich habe das Bedürfnis nach Urlaub“, das wäre eher eine Strategie, wie ich mir das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung erfülle. Nicht
alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse, aber welche sehr vielen Menschen wichtig sind, sind z. B. das Bedürfnis nach Sicherheit, Geborgenheit, gehört werden und Anerkennung. Wenn wir
Menschen also merken, da droht eins unserer Bedürfnisse nicht erfüllt zu werden, machen sich unsere Gefühle bemerkbar. Und meistens machen sie sich so breit, dass es oft nicht zu überhören oder
zu übersehen ist. Deshalb macht es auch wenig Sinn, mit den Streitenden über den Sachverhalt zu sprechen, das kommt gar nicht an. Als erstes müssen die Gefühle und Bedürfnisse gehört
werden.
Zurück zu unserem Streit: Ein oder mehrere Bedürfnisse wurden nicht beachtet, es entstehen Gefühle und daraus entsteht ein Streit. Wenn ein Streitschlichter jetzt
für eine Seite Partei ergreift, verliert er das Vertrauen. Denn es geht ja beiden Seiten gleich, auf beiden Seiten wollen Bedürfnisse und Gefühle gehört werden.
Wie hört man Gefühle?
Was heißt jetzt aber konkret „gehört werden“? Es ist eher eine innere Einstellung, die heißt: „ich habe Interesse an dem was hier geschieht, an Eurem Anliegen, an
Euren Gefühlen.“ Gehört werden heißt in dem Fall nicht immer zwingend, dass diese Dinge ausgesprochen werden müssen. Es ist auch möglich sich diese Dinge einfach nur zu denken. Das kommt auch
beim Gegenüber an. Vor allem Kinder haben feine Antennen dafür.
Manchmal ist es aber auch sehr hilfreich, die Gefühle anzusprechen. Als Streitschlichter könnte ich dann z. B. fragen: „hat dich das geärgert oder verängstigt?“
Wenn es zutrifft, fühlt sich der Angesprochene gehört und wenn nicht, dann kann er es korrigieren. Oder er wird sich selbst darüber klar, wie es ihm geht. Wenn man die Gefühle nicht so direkt
ansprechen möchte, was sinnvoll sein kann, wenn ich vermute, dass es der Person evtl. peinlich sein könnte, dann frage ich z.B.: „hat dich das verwirrt oder verunsichert?“
Einen Schutzraum geben
Das ich die Kinder mit ihren Anliegen respektiere, bedeutet nicht, dass sie tun und lassen können was sie wollen. Ich bemühe mich zu verhindern, dass sich jemand
verletzt, oder verletzt wird. Es braucht ein feines Gespür, wo eine Rauferei oder ein heftiger Streit noch in Ordnung ist, und wann ich einschreiten sollte. Es kann also sein, dass es erst mal
sinnvoll ist, das Geschehen eine Weile zu beobachten. Durch diese Beobachtung kann ich den Beteiligten eine Art Schutzraum geben. Vielleicht kommen die Kinder oder Jugendlichen auch ohne Hilfe
zurecht, aber sie wissen, dass sie sich jederzeit Hilfe holen können. Manchmal ist es auch gut, wenn die Streitenden irgendwann merken, dass sie allein nicht mehr weiterkommen. Dann sind sie
manchmal eher bereit Unterstützung anzunehmen, als wenn die Hilfe ungebeten kommt.
Raum zum Reden
Wenn es sich also jetzt so entwickelt hat, dass meine Unterstützung gebraucht wird, versuche ich allen Seiten die Möglichkeit zu geben, zu sagen, was passiert ist,
was sie gesehen und gehört haben, was sie ursprünglich vor hatten, was ihnen wichtig war. Das geht bei Kindern nicht immer so streng wie in einer Mediation für Erwachsene, denen man sagen kann,
erst eine Partei, dann die andere. Kinder sind oft so impulsiv, dass man da etwas flexibel sein sollte. Ein kurzer Zwischenruf vom Streitschlichter wie: „…und das hat dich echt richtig
angekotzt“, kann so passend sein, dass die
Person erst mal ganz zufrieden ist. Ich versuche auch nicht den tatsächlichen Hergang der Geschehnisse herauszufinden, weil das im Nachhinein oft nicht mehr möglich
ist.
Ich bemühe mich stattdessen die Gefühle der Menschen wahrzunehmen und die eigentlichen Anliegen, bzw. die Bedürfnisse der einzelnen herauszufinden. Das mache ich,
indem ich nachfrage, z. B. wenn ein Kind was kaputt gemacht hat: „…ach so, und das hat dich so geärgert, dass du aus lauter Wut erst mal die Sandburg kaputt gemacht hast“, oder z. B. wenn
ein Kind plötzlich in einer Gruppe nicht mehr mitspielen möchte. „…ah ja, du fandst das blöd, dass da jetzt einfach noch ein Kind dazu kam, ohne zu fragen, deshalb möchtest du jetzt lieber erst
mal eine Weile allein sein?“
Keine Belehrungen
Ich ahne schon, dass jetzt mancher denkt, ja aber man muss doch den Kindern sagen, dass sie nicht einfach was kaputt machen dürfen, oder ähnliches. Wir denken, dass
wir damit den Kindern beibringen können, dass sie es beim nächsten Mal nicht so tun. Das ist leider eine Täuschung, die Kinder lernen durch solche Belehrungen nicht besonders viel. Was sie aber
spüren ist Scham, weil sie belehrt werden. Und das Gefühl von Beschämung ist so destruktiv, dass es in diesem Sinn keinen guten Effekt hat. Einen ähnlich beschämenden Effekt hat es auch, wenn wir
die Kinder dazu anregen, sich in die Lage des Anderen zu versetzen. Wenn man ganz ehrlich ist, ist einem das, wenn man richtig aufgebracht ist, eigentlich völlig egal. Nur das soziale Gewissen,
oder die Angst vor unangenehmen Konsequenzen durch den Erwachsenen machen es möglich, dass manche Kinder das dann doch machen und Antworten geben, von denen sie wissen, dass der Erwachsene sie
gern hören möchte.
Wenn der Streitschlichter es in so einer Situation schafft, ganz ohne Belehrung zu arbeiten, und stattdessen sich in die Lage der Kinder einfühlt, spüren die Kinder
an sich selbst, wie gut es sich anfühlt, wenn sie wirklich gehört und verstanden werden. Dieses Gefühl wird sich in den Kindern verfestigen, wenn sie es immer wieder erleben, werden sie es
unweigerlich weitergeben.
Erst wenn die wichtigsten Gefühle und Bedürfnisse zur Sprache gebracht wurden, ist es möglich nach einer Lösung zu suchen. Wenn das von den Streitenden noch gewollt
wird, manchmal rückt es im Laufe des Streits in den Hintergrund. Dann kann man es dabei belassen, dass die Gefühle und Bedürfnisse gehört wurden. Wenn es aber wichtig ist eine Lösung zu finden,
dann gebe ich den Kindern Lösungsvorschläge, wenn sie selbst keine Ideen haben, ansonsten lasse ich sie selbst kreativ sein. Ich bewerte die Lösungsvorschläge auch nicht, außer wenn ich als
„Aufpasser“ dienen soll, das mache ich nicht gern.
Manchmal ist es auch nicht möglich einen Konflikt so zu klären, dass alle zufrieden sind, dann kann man sich aber sicher sein, dass der nächste Streit nicht lange
auf sich warten lässt. Dann hat man wieder die Gelegenheit mit den Kindern ins Gespräch über ihre Bedürfnisse zu gehen.
Gut ist, wenn der Streitschlichter selbst in der Lage ist seine eigenen Gefühle, zu spüren und anzunehmen. Denn auch bei ihm können während der Streitschlichtung
Gefühle entstehen. Wenn er das kann, ist er auch fähig, sich in die Lage der Streitenden einzufühlen und er kann seine eigenen Gefühle von denen der anderen unterscheiden. Gefühle wollen gefühlt
werden.
Sinnvolle Tipps:
• nicht von „beide“ oder „ihr“ sprechen, sondern von „du“ bzw. den Namen des Kindes aussprechen, sie fühlen sich sonst nicht angesprochen
• Bei kleinen Kindern achte ich besonders darauf einfache Wörter und Sätze zu sprechen, von denen ich weiß, dass sie sie verstehen können, zum Beispiel: „bist du traurig; ärgerst Du Dich; wolltest Du auch gern damit spielen?“
• Wenn die Gefühle und Bedürfnisse erfragt werden und als Antwort kommt ein sattes“ ja“ dann wisst ihr, dass das passend und wichtig war. Wenn nicht, dann eventuell die Frage nochmal verändern. Manchmal erkennen die Kinder dann selbst was es ist.
• Ständig auf sich selbst achten und fragen: „bin ich neutral, werden eigene Gefühle angesprochen, bewerte ich die Personen, sprechen eigene Bedürfnisse dagegen, dass ich hier jetzt noch als Streitschlichter zur Verfügung stehe?“ Ich bin aufrichtig, wenn ich nicht oder nur teilweise zur Verfügung stehen kann.
• Nicht den Anspruch haben, dass die Kinder Konflikte immer friedlich lösen sollen. Das lernen sie ja erst, Sie müssen sich auch streiten dürfen.
• Auch körperliche Auseinandersetzungen sind wichtig für Kinder, solange die Kräfteverhältnisse unter den Kindern ausgewogen sind. Kinder müssen raufen dürfen.
• Niemand muss sich entschuldigen, Entschuldigungen müssen von Herzen kommen.
• Niemand wird zum Teilen gezwungen oder überredet, weil auch Teilen von Herzen kommen muss.
• Manchmal kommt in einem Streit etwas Altes aus einem vorangegangenen Streit hervor. Dann muss erst das gehört werden, (mehr die Gefühle und Bedürfnisse als der Sachverhalt) sonst ist derjenige nicht bereit weiter mitzugehen.
• Wenn andere Eltern dabei sind, (z.B. auf einem Spielplatz) könnt ihr sie fragen ob es o.k. ist, wenn ihr das jetzt mit den Kindern klärt. Wenn die Eltern das
nicht wollen, ist es wichtig zu überlegen, ob man die Sache dann abgibt, oder fragt, was sie für Gründe für ihr nein haben. Vielleicht sind sie es nicht gewohnt, dass Konflikte so geklärt werden
können und sind bei einer anderen Art damit umzugehen möglicherweise unsicher.
Geduld und Vertrauen
In Gruppen (egal welchen Alters) in denen diese Art von Streitschlichtung verlässlich angewendet wird, tritt eine gewisse Ruhe bei Konflikten ein, die spürbar ist.
Die Kinder haben die Gewissheit: jeder wird gehört, wenn ich „nein“ sage wird das respektiert, wir werden nicht zu Lösungen gezwungen die wir blöd finden, unsere Gefühle und Bedürfnisse werden
gehört. Das braucht allerdings eine Weile. Je kleiner die Kinder sind, desto schneller wachsen sie in diesen Umgang hinein. Je älter sie sind, umso stärker haben sie Regeln verinnerlicht wie:
herausfinden wer schuld ist, es muss eine Strafe geben, man muss sich entschuldigen, Auszeiten o. ä.. Alles Regeln, die nicht nach den Bedürfnissen der Beteiligten schauen, sondern neuen Frust
heraufbeschwören und Gefühle unterdrücken. Um eine konstruktive Streitkultur in festen Gruppen zu entwickeln braucht es regelmäßigen Austausch und eine gute Kommunikation unter den beteiligten
Erwachsenen und viel Geduld.
Jede Streitschlichtung bringt etwas, auch wenn sie scheinbar misslingt. Es ist immer eine Lernmöglichkeit für alle.
Elisabeth Kuveke